Die besengte Glückssau – Episode 02: Die ruinierte Idylle
Direkt neben dem Wachtturm befand sich ein merkwürdiger Anbau. Eine quadratische Erweiterung ohne jegliche Fenster und Türen. Dafür aber mit unbenutzbarer Dachterrasse.
Seit langem schmunzelte der alte Soldat über den wirren Architekten, der sowas erbaut hatte. War dieses Minibollwerk innen so hohl wie der Kopf des Konstrukteurs? Oder durch und durch Granit, wie die Schädel seiner früheren Kommandeure? Immerhin hatte ausgerechnet dieser grundsolide Klotz dem Zahn der Zeit am stärksten getrotzt. Von Verfall keine Spur. Manchmal, an stillen Tagen, kam es dem Soldaten sogar so vor, als höre er aus dem Inneren ein tiefes Schnurren, wie von einem zufrieden schlafenden alten Kater.
Doch dann kam der Tag, der alles änderte. Hier, am ereignislosen Ende der Welt, drohte dieselbe ohne Vorwarnung in Scherben zu gehen. Beißender Rauch drang aus den uralten Mauerritzen. Gefolgt von einem fast überirdischen Leuchten, das sich zielstrebig durch die Fugen frass, als würde Carl mit einem glühenden Bleistift den Schlund zur Hölle skizzieren.
Schwefliger Geruch ließ dem Soldaten den Atem stocken. Nase und Kehle machten schlagartig dicht. Er versuchte, den Würgereiz zu unterdrücken und Luft zu schnappen. Dagegen duftete selbst Frieda, als sei sie einem Vollbad in kölnisch Wasser entstiegen
„Groooaaaarrrr!!!!“ durchbrach ein donnerndes, urzeitliches, apokalyptisches Grollen die Stille. Die grundsolide Basteimauer schwankte und zitterte wie Espenlaub. Die Beine des Soldaten taten es ihr nach. Der Boden bebte. Scheinbar unzerstörbarer Mörtel zerplatzte zu Puderzucker und mit ihm der langjährige Traum vom anhaltenden Frieden im Lande.
„Groooaaaarrrr!!!!“. Ein schuppiger, zorngeröteter Drachenschädel fegte fauchend ein scheunentorgrosses Steingefüge beiseite, erblickte seit Jahrhunderten erstmalig wieder das Tageslicht und starrte wild… in die neugierigen Schweinsäuglein von Frieda.
Kurzerhand schaltete das schlachterprobte Borstenvieh den Rückwärtsgang ein. Hier zahlte sich der jahrelange Militärdrill aus. Wilde Panik war keine Option. Zum Glück war sie im „taktischen Rückzug“ ebenso schnell, wie beim Sturmangriff. Wenn nicht sogar deutlich schneller.
Beinahe hätte Frieda dabei Spitzwegs Staffelei gerammt. Musste der Meistermaler sich ausgerechnet heute hierher verirren? Seine Biedermeier-Idylle konnte er sich jedenfalls abschminken. Kitschige Motive für zahlungskräftige Kunden würden sein geringstes Problem sein.
Während der Drache sich langsam und eindrucksvoll im wabernden Dunst aufrichtete wie ein Kreisklasse-Bodybuilder im Trockeneisnebel, erstarrte der alte Soldat.
Frieda war in Gefahr! Und er selbst sass im Turm fest. Ein Logenplatz des Grauens. Hatte ihr Glück sie beide zum ersten Mal verlassen? Oder war es ihnen gar nicht erst an diesen AdW gefolgt?
Neben der Staffelei schlug derweil ein unsichtbarer Geistesblitz ein. Der geniale Spitzweg erkannte, dass er hier auf dem Holzweg war. Von bösen Bilderstürmern hatte er schon gelesen. Sicher, die Verteidigung der Kunstfreiheit war ein hohes Gut. Es ging schliesslich nicht nur um ihn selbst, sondern um das kulturelle Erbe zukünftiger Generationen. Sollte er sich diesem Alptraumexemplar also heldenhaft entgegenstellen? Die Festungsmauer war in Sekundenschnelle gefallen. Welchen Schutz bot da seine fadenscheinige Leinwand? Carl überlegte nicht lange.
Noch bevor er den Gedanken zu Ende brachte, hatte er sich schon tapfer geschlagen – in die rettenden Büsche. An diesem denkwürdigen Tag lag die Kunst nicht in der Mal- sondern in der Überlebenstechnik.
Keinen Wimpernschlag zu früh! Schon schoss ein lodernder Flammenstrahl aus der Kehle des wutschnaubenden Untiers!
Frieda war entsetzt. Mit dem Kopf durch die Wand – das erlebte sie des Öfteren. Sie selbst hatte ja einen rosa Dickschädel. Manche Deppen ohne Kinderstube liessen halt mal die sprichwörtliche Sau raus. Aber dies war zuviel. Auch wenn der Drache damit ganz nebenbei die Einbrennlackierung erfunden hatte. So ging man nicht mit begnadeten Pinselern und ihren Meisterwerken um.
Carl verfiel in Schockstarre und ernste Selbstzweifel. Kritiker hatten ihn schon oft zerrissen. Dafür zerriss er dann deren gedruckte Schmierereien und sie waren praktisch quitt. Doch dieses vernichtende Urteil erschöpfte sich nicht in Worten. Man hatte ihn gebranntmarkt, seine Staffelei zum Scheiterhaufen gemacht, um sein Werk auszulöschen. Ihm war hundeelend.
Unterdessen hatte der alte Soldat beherzt zu den Waffen gegriffen. Oder es zumindest versucht. So furchteinflössend seine mächtige Kanone auf unbedarfte Eindringlinge wirken mochte. Sie war nutzlos. Selbst wenn er sie irgendwie hätte laden können, tobte das Monster am Fuß des Turms völlig ausserhalb des möglichen Schussfeldes. Unerreichbar. Sollte er etwa das tonnenschwere Bronzerohr aus der Lafette heben und auf den unerbittlichen Feind herunterwerfen, wie anno dunnemals die Ritter, die ihre Belagerer mit allerlei Steingrüßen von oben eindeckten? Die Lage tendierte gegen hoffnungslos, und er, der einzige Vertreter der Staatsmacht auf weiter Flur, stand hilflos da. Mit einer artilleristischen Dummy-Deko und einem Blumenstrauss.
Eilig ergriff der alte Soldat seine Muskete und machte sich auf den Weg nach unten. So langsam wurde ihm klar, warum er diesen scheinbar so sinnlosen Posten erhalten hatte. Der bunkerartige Anbau war ein Kerker, in dem etwas uraltes, Böses sicher verwahrt werden sollte. In alle Ewigkeit. Nur, dass auch Ewigkeiten irgendwann ihr MHD überschreiten. Dann war der Festungsbauer aus grauer Vorzeit also alles andere als ein Versager gewesen. Und er selbst war kein trauriger Türmer, sondern ein Drachenwärter wider Wissen. Die Erkenntnis brach über ihn herein, wie ein Trocken-Tsunami. Eine echte Monsterwelle hätte den Feuerschlund des Drachens vielleicht geflutet. Was hätte er jetzt für einen einzigen Eimer Löschwasser gegeben! Leider erschöpften sich die erreichbaren Feuchtgebiete in den bemoosten Basteiwänden. Zumindest konnte das Schwarzpulver für seinen Schiessprügel nicht feucht werden. Er hatte keines. Die Logistik der königlichen Truppe war eine Katastrophe für sich.
„Groooaaaarrrr!!!!“ Der Drache geriet immer mehr in Rage. Endlich war seine Stunde gekommen, die Mauer gefallen, die Freiheit so nah. Seine ledrigen Schwingen knarzten von der jahrhundertelangen Untätigkeit. Das würde sich geben, sobald er sie entfaltet und sich kraftvoll in den Himmel geschwungen hatte. Mit etwas Anlauf hätte er die lächerlichen Goldfesseln locker aus den Halterungen gerissen. Und doch verriet ihm das Gewusel und Geklirre, dass er sich hoffnungslos verheddert hatte. Er war zu ungeduldig gewesen. Ausgerechnet er, ein mythisches Wesen von fast unbegrenzter Lebenspanne. Eine Verkettung unglücklicher Umstände? Nein, sein Fehler. Sein Zorn wuchs ins Unendliche. Und weil selbst die mächtigsten Drachen von jeher zutiefst narzistische Persönlichkeiten hegen, die eigene Unprofessionalität nicht wirklich eingestehen können, brauchte er zum Abreagieren schnellstens Sündenböcke. Egal ob Mensch oder Vieh. Hauptsache brennbar und leidensfähig. Fast hätte er laut und boshaft gelacht. Aber die pyrotechnische Magensäure kam ihm bereits wieder hoch.
Dem alten Soldaten blieb also nur der Bajonettangriff mit blanker Klinge. Ohne sich mit seiner Einschätzung weit aus dem Fenster zu lehnen, war klar: Gegen den Schuppengepanzerten Flammenwerfer hatte er nicht den Hauch einer Chance. Aber im verbalen Nahkampf war der alte Soldat unschlagbar. Vielleicht konnte er mit einigen Sticheleien und Verunglimpfungen das Drachenfeuer auf sich ziehen und wenigstens Frieda und Carl zu Flucht verhelfen?
(Fortsetzung folgt.)